REV 12.08.2005

Andrea Fromm: Barlach und die Avantgarde

Rezensiert von Gudula Mayr, Kunststätte Bossard
Redaktion: Rainer Donandt

Andrea Fromm ist als Kennerin von Ernst Barlach bekannt, mit dem sie sich seit nunmehr fast zwanzig Jahren auseinandersetzt. Ihre Dissertationsschrift zum Thema „Barlach und die Avantgarde. Eine Studie zur Rezeptionsgeschichte und Avantgardeproblematik“ kann schon allein daher als eine interessante Neuerscheinung zu Ernst Barlach gelten. Ausgehend von der Rezeptionsgeschichte des Künstlers sowie seiner Stellung innerhalb der Berliner Secession und des Kunstmarktes beleuchtet Fromm darin die Frage, inwieweit Barlach der künstlerischen Avantgarde zuzurechnen ist.

Sehr aufschlußreich sind die Ausführungen Fromms zur frühen Rezeption des Künstlers, insbesondere durch Karl Scheffler, den Chefredakteur der dem Impressionismus und der Berliner Secession verpflichteten Zeitschrift „Kunst und Künstler“. Offenbar als erster Kunstkritiker stellte er Barlach als menschenscheuen Sonderling dar und erklärte sein Schaffen aus dieser - unterstellten - charakterlichen Disposition. Er verglich ihn zudem mit Tilman Riemenschneider und mit der volkstümlichen Holzbildhauerei des Barock und sah ihn als Vertreter eines „spezifischen Deutschtum[s] in der modernen Kunst“ (S. 40). Damit legitimierte er nicht nur Barlachs Schaffen, sondern grenzte ihn gleichzeitig aus der avantgardistischen Bewegung aus. Auch die Verortung des Künstlers in einer christlichen Tradition nahm ihren Anfang in den Texten Karl Schefflers. Daß Barlach selbst eine völlig andere Aussage mit seinen Werken verband und sich in den entsprechenden Deutungen nicht wiederfand, kann Fromm anhand der Schriften des Künstlers zeigen. Hier schafft die erstmalige ausführliche Darstellung der frühen Rezeption des Künstlers die Grundlage für eine differenzierte Betrachtung und Revision des über die Jahrzehnte festgeschriebenen Barlachbildes.

Neben derartigen frühen Barlach-Deutungen sieht Fromm in der engen Bindung an den Galeristen Paul Cassirer eine Ursache dafür, daß der Künstler in der öffentlichen Wahrnehmung in ein eher traditionelles Lager gerückt wurde. Cassirers marktpolitische Interessen beeinflußten möglicherweise Barlachs Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme an bestimmten Ausstellungen wie sein Fernbleiben vom „Ersten Deutschen Herbstsalon“. Auf die Loyalität zu Cassirer führt Fromm auch die Tatsache zurück, daß Barlach sich im Zusammenhang mit den immer wieder auftretenden Querelen innerhalb der Berliner Secession und später der Neuen Secession zumeist auf die Seite der etablierten, traditionellen Kräfte stellte. Daß Paul Cassirer und später der Kunsthändler Alfred Flechtheim, wie von Fromm postuliert, aus Geschäftskalkül das traditionelle Bild von Barlachs Kunst förderten, ist denkbar, läßt sich aber nicht eindeutig nachweisen.

Die Tendenz der Barlach-Rezeption folgt auch in späteren Jahren den früh etablierten Mustern. Zu Recht verweist Fromm darauf, daß sowohl die vom Lübecker Museumsleiter Carl Georg Heise erteilten Aufträge für überlebensgroße Nischenfiguren für die Lübecker Katharinenkirche als auch die im kirchlichen Kontext aufgestellten Denk- und Ehrenmale für Güstrow und Kiel der Herausbildung eines christlich-mythisch verklärten Barlachbildes schon in den zwanziger Jahren massiven Vorschub leisteten. Nach der Verfemung durch den Nationalsozialismus wurde Barlach auch in der Nachkriegszeit wieder für religiöse und harmonisierende Vorstellungen vereinnahmt, wobei neben der allgemeinen Stimmung nach dem eben überstandenen Weltkrieg auch die Kirche eine wesentliche Rolle spielte. Trotz der seither stark versachlichten und differenzierten Barlach- Forschung kommt Fromm zu dem Schluß, daß „die Rezeption bis in die Gegenwart von einem ideologisch verankerten Bild und dem Harmoniewillen der 50er Jahre beeinflußt“ sei (S. 95).

Im zweiten Hauptteil der Arbeit geht die Autorin einerseits auf ausgewählte Aspekte von Barlachs Werk sowie andererseits auf seine intellektuellen Prägungen und seine psychische Befindlichkeit ein, um einen engen Bezug des Künstlers zur Avantgarde zu belegen. Zunächst widmet sich Fromm dem um 1900 verbreiteten Okkultismus und stellt deutliche Parallelen dazu in Barlachs Vorstellungswelt heraus. Die differenzierte Darlegung der entsprechenden Gedankengänge des Künstlers gehört zu den Stärken der Untersuchung, ebenso wie der folgende Abschnitt über Barlachs Träume und Visionserlebnisse. Weiterhin werden als prägende Erlebnisse, die sowohl für Barlachs persönliche Entwicklung als auch für sein künstlerisches und literarisches Schaffen von großer Tragweite waren, die Rußlandreise des Künstlers im Jahr 1906 sowie die Begegnung mit dem Dichter und Kunstkritiker Theodor Däubler 1909 in Florenz dargestellt. Diese Kapitel leisten eine Annäherung an die Persönlichkeit Barlachs, die inhaltlich über die bislang erschienenen Biographien hinausgeht und die für das Verständnis seines Schaffens insgesamt von Bedeutung ist. Fromm ordnet Barlach in geistige Strömungen seiner Zeit ein, die unter anderem auch die Vorstellung von Künstlern wie Oskar Kokoschka, Piet Mondrian, Kasimir Malewitsch oder Frantisek Kupka beeinflußt haben. Die Verarbeitung von okkultem Gedankengut sieht die Autorin als Hinweis auf Barlachs Verortung innerhalb der künstlerischen Avantgarde.

Mit Vorsicht zu bewerten sind die Versuche Fromms, Parallelen zur Skulptur der Zeit nachzuweisen. Die Vorliebe Barlachs für die Kunst der Etrusker, der Ägypter und der Gotik oder auch für die „Balabanows“ genannten steinernen Standbilder, die er in Südrußland entdeckte, stellt fraglos eine Parallele zur Rezeption sogenannter „primitiver“ Kunst durch die „Fauves“, die „Brücke“-Künstler oder auch Picasso dar. Postulierte Bezüge zu Maurice de Vlaminck, André Derain oder Constantin Brancusi können aufgrund der zu allgemeinen Vergleichskriterien jedoch letztlich nicht überzeugen - so hebt Fromm auf die Merkmale von Kompaktheit und Blockhaftigkeit ab, räumt aber auch selbst ein, daß die Blockform als „eines der aktuellsten plastischen Probleme zwischen 1906 und 1910“ [1] erst 1937 ihre vollkommene Umsetzung durch Barlach erfuhr (S. 154). Auch der ab 1912 spürbare Einfluß des Kubismus bleibt ein Stilelement unter vielen in Barlachs Skulpturen. Als problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang die fehlende Bebilderung der Arbeit, die angesichts der Schwierigkeiten bei der Finanzierung von Dissertationsdrucken zwar nachvollziehbar ist, das Verfolgen von Fromms Argumentation aber deutlich erschwert.

So erhellend Fromms Annäherungen an Barlachs Kunst sein mögen, so handelt es sich bei ihnen doch hauptsächlich um Einzelaspekte - eine präzise, gebündelte Charakterisierung der formalen Qualitäten des künstlerischen Oeuvres, die eine genauere Bewertung der postulierten Zugehörigkeit zur Avantgarde ermöglichen würde, bleibt jedoch aus. Zudem wäre zu fragen gewesen, ob es nicht auch konkret beschreibbare Stilelemente von Barlachs Schaffen waren, die ihn für die zeitgenössischen Betrachter im Vergleich mit anderen Künstlern der Zeit als traditionsverbundenen, gemäßigt modernen Künstler erscheinen ließen. So ist zu bedenken, daß sich die Holzskulpturen des Künstlers nicht zuletzt durch einen handwerklich fundierten Umgang mit dem Material auszeichnen und daß gerade hierin auch ein Grund für die große Wertschätzung Barlachs durch Karl Scheffler zu sehen ist, der dem Künstler „solide Handwerkstugenden“ bescheinigte (S. 39). Die stehen gelassenen Spuren des Hohleisens, die die Oberfläche von Barlachs Skulpturen beleben, sind sauber und gleichmäßig gesetzt und im Bereich der Gesichter oft deutlich feiner als an den Körpern ausgeführt. Sie könnten als Reminiszenz an den rhythmisch bewegten Pinselduktus der impressionistischen Malerei aufgefaßt werden und damit auf eine gewisse Traditionsverhaftung von Barlachs Schaffen hindeuten; in jedem Fall stehen sie in eklatantem Gegensatz zu den oft rohen, ungleichmäßig behauenen Oberflächen der Holzskulpturen eines Ernst Ludwig Kirchner, die bereits in ihrer materiellen Erscheinung ungezügelte Spontaneität und Antiakademismus suggerieren. In diesem Punkt besteht somit ein deutlicher Unterschied von Barlachs Skulpturen zu denen der „Brücke“-Künstler,[2] ebenso in der Verarbeitung von Stilelementen der sogenannten „primitiven“ Kunst, die bei Barlach deutlich gemäßigter sind.

Wesentliches Verdienst von Andrea Fromm ist einerseits die Beleuchtung der Verflechtungen Ernst Barlachs mit der Berliner Kunstszene und damit auch mit den Künstlern der „Avantgarde“, andererseits die Darlegung der äußerlichen, in der Rezeptionsgeschichte verhafteten Gründe, die dazu geführt haben, daß sein Werk als isoliert, traditionsverbunden und mythisch-christlich geprägt begriffen wurde. Zudem hat die Autorin einen wichtigen Beitrag zu einer Annäherung an die Persönlichkeit des Künstlers geleistet. In ihrem zweiten Teil ist die Untersuchung eher heterogen und teilweise unübersichtlich geraten; unter dem Thema von Barlachs Verhältnis zur Avantgarde werden hier unterschiedlichste Aspekte behandelt. Vollauf berechtigt ist das Anliegen, Ernst Barlachs Werk deutlicher als bisher in die Nähe der Avantgarde zu rücken. Eine regelrechte Zugehörigkeit des Künstler zur Avantgarde läßt sich jedoch allenfalls dann nachvollziehen, wenn die von Fromm verwendete, sehr allgemeine Begriffsdefinition akzeptiert wird. Die Autorin nennt als - zeitlich nicht weiter fixierte - Merkmale der Avantgarde die Verarbeitung von okkulten Ideen, die Verwendung von abstrakten Formelementen sowie die „Objektivierung von subjektiven Empfindungen“, also die Darstellung innerer Vorgänge und Visionen in der Kunst (S. 27, 180f.). Bisherige, teils deutlich engere Definitionen, etwa von Peter Bürger, Jean Clair oder Gerhard Plumpe, [3] werden von Fromm zwar kurz referiert, ihre eigene Begriffsbestimmung läßt jedoch kaum eine Auseinandersetzung mit diesen Positionen erkennen. Zweifelhaft bleibt, ob ein derartig unscharfer Avantgardebegriff noch ein sinnvolles Arbeitsinstrument darstellt, beispielsweise auch zur Abgrenzung von Termini wie dem der „künstlerischen Moderne“.

Die Stärken der Arbeit liegen damit nicht in der Auseinandersetzung mit der Avantgardeproblematik, sondern in der Einordnung Barlachs in künstlerische Strömungen seiner Zeit, in der Beleuchtung seiner Persönlichkeit sowie auch der Rezeptionsgeschichte seiner Werke. Nicht zuletzt überzeugt die Untersuchung durch Fromms profunde Kenntnis von Barlachs zahlreichen Schriften. Die Veröffentlichung, der ein sorgfältigeres Lektorat zu wünschen gewesen wäre, wird durch ein Literaturverzeichnis und mehrere Anhänge zur Rezeptionsgeschichte Ernst Barlachs abgeschlossen.

Anmerkungen

[1] Manfred Schneckenburger: Der „Einsame“ in einigen Bezügen, in: Ernst Barlach. Plastik, Zeichnungen, Druckgraphik, Ausst.-Kat. Kunsthalle Köln 1974, Wiederabdruck in: Ernst Barlach. Mehr als Ich, Ausst.-Kat. Kunsthalle zu Kiel 1998, S.45.

[2] Zur Frage, inwieweit selbst die „Brücke“-Künstler überhaupt der Avantgarde zuzuordnen sind, vgl. den unlängst erschienenen Beitrag von Peter Bürger („Rebellion am Badesee“) in der ZEIT (23/2005).

[3] Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974; Jean Clair: Die Verantwortung des Künstlers. Avantgarde zwischen Terror und Vernunft, Köln 1998 (zuerst Paris 1997); Gerhard Plumpe: Avantgarde. Notizen zum historischen Ort ihrer Programme, in: Aufbruch im 20. Jahrhundert. Über Avantgarden, Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur, Sonderband IX/01, hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 2001.

Fromm, Andrea: Barlach und die Avantgarde. Eine Studie zur Rezeptionsgeschichte und Avantgardeproblematik (= Europäische Hochschulschriften), Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang 2004
ISBN-10: 3-631-51858-7, 220 S

Empfohlene Zitation:
Gudula Mayr: [Rezension zu:] Fromm, Andrea: Barlach und die Avantgarde. Eine Studie zur Rezeptionsgeschichte und Avantgardeproblematik (= Europäische Hochschulschriften), Frankfurt am Main [u.a.] 2004. In: ArtHist.net, 12.08.2005. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/94>.

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